Digitaler Zwilling und fahrerloses Rangieren: die Zukunft ist heute
Digitaler Zwilling und fahrerloses Rangieren: die Zukunft ist heute
Aktuelle Entwicklungen beim automatisierten Fahren im Schienenverkehr
Das automatisierte Fahren, in Fachkreisen als ATO ("automatic train operation") bezeichnet, ermöglicht dem Eisenbahnsektor Energieeinsparungen durch die Regulierung der Traktions- und Bremsanstrengungen und erhöht die Netzkapazität durch eine Verdichtung der Fahrpläne. ATO führt somit zu einem zuverlässigeren Betrieb und ermöglicht eine größere Verkehrsdichte im Schienennetz. Während ATO bereits im U-Bahnbereich sowie auf städtischen Hauptstrecken wie in Paris im Einsatz ist, wurde diese Technologie für den Güter- und Personenverkehr auf nicht-urbanen Hauptstrecken bisher wenig genutzt.
Das Umfeld von Eisenbahnlinien erfordert einen unterschiedlichen Ansatz und andere Standards im Vergleich zu U-Bahn-Linien. Die betriebliche Überwachung und Steuerung des gesamten Verkehrs sind komplex. Aufgrund der verschiedenen Bahnbetreiber kommt es auf Hauptstrecken zu komplizierten Zugfahrplänen. Wenn sich ein Zug verspätet, wirkt sich dies auf alle anderen Verbindungen aus. Auf den meisten Hauptstrecken besteht eine Kombination aus Personen- und Güterverkehr und eine große Vielfalt Rollmaterial, was die Überwachung erschwert.
Eisenbahnbetreiber, Infrastruktureigentümer und die Industrie befinden sich derzeit in der Erkundungsphase, um verschiedene Anwendungsfälle zu testen. Gemeinsam mit den Betreibern untersucht Alstom, welche Innovationen für welche Betriebsarten geeignet sind, um eine geeignete Strategie für Automatisierung der Eisenbahn zu entwickeln.
GoA (Grade of Automation)
Wie der Name schon vermuten lässt, ist das automatisierte Fahren oder ATO ein digitales System, das den automatischen Betrieb eines Zuges ermöglicht und den Triebfahrzeugführer:innen unterstützt, indem es ihm:ihr einige Aufgaben abnimmt. Je höher der Automatisierungsgrad ("GoA"), desto mehr Aufgaben werden übernommen - GoA4 ist der höchste Automatisierungsgrad, bei dem ein Computer den Zug nach vorgegebenen Algorithmen und vorab aufgezeichneten Einsatzprofilen vollständig steuert.
ETCS auf der Betuweroute, Niederlande
Ende 2018 führte Alstom einen ATO-Funktionentest mit einer Lokomotive der Baureihe 203 der Rotterdam Rail Feeding (RRF) auf der Betuweroute durch. Ziel war es, Erkenntnisse aus dem Test für den ATO-Betrieb unter der Automatisierungsstufe GoA2 auf einer Güterstrecke zu gewinnen: Das Fahrzeug übernimmt bestimmte Aufgaben vom noch anwesenden Triebfahrzeugführer, der die Strecke weiterhin beaufsichtigt.
Die BR203 legte über mehrere Tage rund 2000 km zurück und verkehrte im Normalbetrieb auf der Betuweroute und im Hafengebiet von Rotterdam mit ATO GoA 2. Das Fahrzeug war bereits mit dem Europäischen Zugsicherungs- und Zugsteuerungssystem ETCS (European Train Control System) ausgerüstet. Dieses standardisierte Zugbeeinflussungssystem soll die vielen inkompatiblen Sicherheitssysteme ersetzen, die derzeit von den europäischen Eisenbahnen eingesetzt werden. Sowohl der Betrieb mit ETCS Level 1 als auch der Betrieb mit ETCS Level 2[1] wurden durch die Tests abgedeckt, wobei die Nennlaufstrecke im GoA2-Betrieb rund 100 km betrug. Die Strecke befand sich während dieser Tests im normalen Regelbetrieb. Um sicherzustellen, dass die Lokomotive zwischen diesen Testfahrten im Regelbetrieb betriebsfähig blieb, wurde die ATO-Ausrüstung von der Traktions- und Bremssteuerung getrennt und für den nächsten Test aktiviert. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die Lokomotive auch außerhalb der Testzeiten weiterhin im Regelbetrieb im grenzüberschreitenden Verkehr eingesetzt werden konnte, so dass der Dienstplan der RRF nur minimal beeinträchtigt wurde.
[1] ETCS Level 1 beruht auf der Signalerkennung. ETCS Level 2 hat keine Signale auf der Strecke, sondern stützt sich nur auf Balisen im Gleis und auf Funkkommunikation.
ATO-Komponenten und Installation
Das On-Board-Ausrüstungsset für den ATO Betrieb besteht aus drei Hauptkomponenten:
- der Bordeinheit (OBU),
- das Gateway (GTW)
- die Relais-Schnittstelleneinheit (RIU).
Die OBU verarbeitet die vom streckenseitigen Server der ATO empfangenen Fahrtenprofile und Streckenabschnittsprofile. Fahrtenprofile und Streckenabschnittsprofile enthalten alle für den automatischen Betrieb notwendigen Informationen über die Fahrt: Entfernungen, Geschwindigkeiten, Bahnhofsstandorte, Steigungen und Fahrplaninformationen. Auf der Grundlage dieser Informationen berechnet die OBU das ideale Fahrprofil für die Bedürfnisse des Betreibers. Das Gateway wurde auf demselben Rechner integriert und dient als Schnittstelle zwischen der OBU und der ETCS-Fahrzeugeinheit. So erhält sie Informationen über die ETCS-Bremskurven, um sicherzustellen, dass die ATO den Zug so steuert, dass er unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bleibt. Die RIU ist die Schnittstelleneinheit zur Steuerung der Traktions- und Bremseinrichtungen im Fahrzeug (Fahr-/Bremsschalter, Fahrtrichtungsschalter usw.) und ermöglicht das Umschalten zwischen dem ATO- oder konventionellen Betriebsmodus.
Zusätzlich zu den ATO-Komponenten wurden auch Kameras an Bord der Lokomotive installiert. Dies diente als Test zur Hinderniserkennung und auch zur Erkennung von Signalobjekten wie Gleise, Signale und den ETCS-Markierungstafeln.
Die Geräte wurden an mehreren Stellen in der Lokomotive installiert: Die RIU wurde im Führerstand, die OBU und der GTW unter der Motorhaube installiert. Für die ATO On Board Unit wurden industrielle Rechnereinheiten verwendet, die konventionell auf dem Markt erhältlich waren.
Zur Durchführung des Einbaus wurden im Vorfeld zwei Untersuchungen an der BR203 im Betriebshof des Betreibers in Dordrecht durchgeführt. Um die bestehende Ausrüstung der Lokomotive so wenig wie möglich zu verändern, wurde die RIU an bestehende Schnittstellen angeschlossen und konnte so ohne weitere Folgen für die fahrzeugseitige Ausrüstung ein- oder ausgeschaltet werden. Bestimmte Bedienhandlungen des Triebfahrzeugführers, insbesondere die Brems- und Beschleunigungsfunktionen, werden umgangen und vom ATO-Modul übernommen.
Digitaler Zwilling
Für die Entwicklung des ATO-Produkts wurde seitens Alstom ein sogenannter Digitaler Zwilling (Digital Twin) eingesetzt. Ein digitaler Zwilling ist eine digitale Nachbildung einer physischen Einheit. Er ermöglicht die Durchführung und Wiedergabe von Testläufen vor und während der eigentlichen Feldtests. Auf diese Weise konnten die Alstom-Ingenieure kostbare Testzeit reduzieren, indem sie im Feld aufgetretene Probleme erneut abspielen und neue Softwareversionen vor der Installation im Zug vorab testen konnten.
Die letzten Testfahrten fanden im Dezember 2018 statt, bei denen die Lokomotive eine Geschwindigkeit von 100 km/h erreichte. Sie durchlief verschiedene Testszenarien: Fahren eines Zuges mit Fahrzeitpuffer im Fahrplan (Energieoptimierung), Fahren eines Zuges ohne Fahrzeitpuffer in der Fahrplanzeit (Fahrt mit Höchstgeschwindigkeit zur Einhaltung des Fahrplans), Zug hinter einem verspäteten Zug, Wechsel auf eine andere Strecke. Dies wurde während mehrerer Tage wiederholt, um die Testergebnisse zu vergleichen und so die Regelmäßigkeit der Zugfahrt zu gewährleisten. Während der Testfahrten wurden die ATO-Algorithmen mit jedem Software-Release weiter optimiert und an die Gegebenheiten angepasst. Ziel war es, sicherzustellen, dass die Lokomotive einen vordefinierten zeitgesteuerten Haltepunkt (in diesem Fall ein ETCS-Haltezeichen) oder einen zeitgesteuerten Überholpunkt so genau wie möglich erreicht. Die definierten Halte- und Überholpunkte wurden schließlich wie vorgesehen erreicht.
Für die weitere Entwicklung des ATO im Güterverkehr muss das Ziel der Güterverkehrsunternehmen im Auge behalten werden. Der automatisierte Betrieb kann sehr effizient (und daher "steil") eine Bremskurve durchfahren, was jedoch mit hohem Verschleiß verbunden ist. ATO kann die in das Netz zurückgesendete Energie maximieren. Dadurch ergibt sich eine sehr sanfte Bremskurve, die den Gesamtenergieverbrauch deutlich reduziert. Aber wird dadurch die Nutzung der Infrastruktur maximiert? Für den Güterverkehr müssen die zum lokalen Kontext passenden Profile in Abhängigkeit der Betriebsbedingungen definiert werden. Eine rein mit Güterverkehr betriebene Strecke kann dafür geeignet sein, Energie einzusparen, da alle Züge mit ähnlichen Eigenschaften fahren. Im Vergleich dazu muss automatisierter Betrieb in Netzen mit gemischtem Verkehr so konfiguriert werden, dass die Züge, insbesondere in einem Gebiet mit stark belasteten Knotenpunkten, möglichst stabil und fahrplanmäßig verkehren, um Streckenkonflikte zu vermeiden.
Die Zukunft ist heute
Nach der erfolgreichen Erprobung auf der dem Güterverkehr gewidmeten Hauptstrecke wurde deutlich, dass ATO in seiner erprobten Form und seinen Modalitäten ausgereift ist und eingeführt werden kann. ATO kann auf neuen und umgerüsteten Fahrzeugen installiert werden, wobei die Ziele und Prioritäten der Optimierung vom Betreiber individuell ausgewählt und zusammengestellt werden können.
Der Güterverkehr ist besonders vom Fahrermangel betroffen. Wir haben gelernt, dass sowohl Passagier- als auch Güterverkehrsunternehmen von ATO profitieren, da sie Energieeinsparungen und Fahrplanstabilität ermöglicht.
Auch in Deutschland wird nun ein weiterer Schritt zum digitalen Bahnbetrieb unternommen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat Alstom den "Innovationspreis Reallabore" im Zusammenhang mit einem geplanten Testprojekt für die Implementierung des von ATO entwickelten Systems im täglichen Fahrgastbetrieb von Regionalzügen verliehen. Das Forschungsprojekt wird im Jahr 2021 in Zusammenarbeit mit dem Regionalverband Großraum Braunschweig, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der Technischen Universität Berlin gestartet.
Nach Evaluierung der ausgewählten Streckenabschnitte und der für den automatisierten Betrieb erforderlichen Ausrüstung werden in Zusammenarbeit mit der Metronom Eisenbahngesellschaft Tests mit zwei elektrischen Coradia Continental-Regionalzügen des Typs "ENNO" der Regionalbahnfahrzeuge Großraum Braunschweig GmbH durchgeführt Es soll der regionale Bahnbetrieb optimiert, der Energieverbrauch gesenkt und der Fahrkomfort erhöht werden. Das hoch automatisierte Fahren wird damit einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz leisten. Ziel ist es, automatisch zu fahren und verschiedene Automatisierungsgrade zu erproben: GoA 3 im regulären Fahrgastbetrieb und GoA 4 beim Rangieren.